Im Gespräch mit Gefängnispfarrer Andreas Gäumann

01. Dez 2022

Andreas Gäumann, Seelsorger im RG Altstätten und in der Strafanstalt Saxerriet

Dieser Artikel erschien im Turmblick, der Mitteilungszeitung der Ev. Kirchgemeinde Arbon, 40. Jahrgang, Ausgabe Nr. 12 Dezember 2022

Andreas, du bist neben deiner Arbeit als
Pfarrer (70 %) unserer Kirchgemeinde

als Seelsorger im Regionalgefängnis Alt
-
stätten und in der Strafanstalt Saxerriet

(30 %) tätig. Was ist deine Motivation

für die Ausübung dieser Tätigkeit?

Ich halte es für eine wichtige Aufgabe unse

rer Kirche, an der Seite von Menschen in

schwierigen Lebenssituationen zu bleiben,

auch an der Seite vom Menschen im Straf

vollzug. Gerne begleite ich Menschen in

Haft und stehe ihnen als unabhängiger Ge

sprächspartner zur Verfügung. Dabei bin ich

davon überzeugt, dass das Matthäus Bibel

wort «Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr

seid zu mir gekommen» ein Leitbild der Ge

fängnisseelsorge darstellt.

Kommen nur evangelische Insassen zu dir

oder Angehörige aller Religionsgemein
-
schaften bzw. auch konfessionslose

Menschen?

Bei mir kommen die Insassen nicht, sondern

ich gehe zu ihnen. In Altstätten besuche ich

die Häftlinge in den Zellen. Und im Saxerriet

rede ich mit den Häftlingen an ihren Arbeits

stellen, esse mit ihnen und bin an den Frei

zeitaktivitäten präsent. Selbstverständlich

pflege ich mit allen Menschen unabhängig

von ihrer Konfession und Religion den Kon

takt. Dazu gehören nicht nur die Häftlinge,

sondern auch das Betreuungspersonal. Als

Gefängnisseelsorger sind mir alle Menschen

wichtig.

Führst du die Gespräche alleine oder sind

auch Sicherheitsleute dabei?

Ich führe die Gespräche grundsätzlich al

leine. In Altstätten, einer geschlossenen In

stitution, befolge ich diverse Auflagen. So

trage ich ein Sicherheitstelefon und habe

mein Handy an der Pforte abgegeben. In we

nigen Ausnahmefällen erhalte ich zusätzli

che Instruktionen. Im Saxerriet, einer offe

nen Einrichtung, habe ich im Blick auf die

Sicherheit weniger Auflagen.

Grundsätzlich fühle ich mich sicher im Ge

fängnis und habe keine Angst. Ich gehe

freundlich und zugewandt – wie das Betreu

ungspersonal – mit den Menschen um. Eine

solche Haltung beeinflusst das Miteinander.

Wie es in den Wald ruft, so ruft es zurück.

Wie wird das seelsorgerische Angebot

genutzt? Sind die Gefängnisinsassen

offen für Gespräche?

Pro Woche bin ich rund zehn Stunden im

Saxerriet und etwa vier Stunden in Altstät

ten präsent. Ich bin die ganze Zeit am

Kommunizieren. Diese Zahlen zeigen, dass

die Häftlinge, aber auch die Betreuer mein

Gesprächsangebot gerne annehmen. Ich

verstehe mich nämlich nicht nur als Ge

sprächspartner für Häftlinge, sondern auch

für das Betreuungspersonal. Darum ist es

mir wichtig, mit den Mitarbeitenden entwe

der Kaffee zu trinken oder das Mittagessen

einzunehmen. Ich bin Gefängnispfarrer und

nicht Gefangenenpfarrer.

Als Gefängnisseelsorger erhältst du

Einblick in sehr schwierige Lebensläufe.

Wie gehst du damit um?

Nach Möglichkeit kombiniere ich Velo und

Zug für meine An und Abreise. Das Velofah

ren von Rorschach nach Arbon lüftet meinen

Kopf. Und dann trägt mich auch die Überzeu

gung, dass Gott die ganze Welt in seinen

Händen hält. «Er hät die Chliine und di Grosse

i de Händ. Gott hät di ganz wiit Wält i de

Händ.» So heisst es in einem Lied. Das ent

lastet mich, und ich darf schwierige Ge

schichten und Situationen auch Gott anver

trauen.

Was sind die hauptsächlichsten Nöte

der dich aufsuchenden Personen?

Die Palette ist riesig, und ich kann nicht sa

gen, welche Themen dominieren. Wichtig ist

es, zunächst einmal einen Kontakt aufzu

bauen. Trotz Vorschuss Vertrauen bin ich

bemüht, eine Verbindung zu schaffen. Da

rede ich über die Familie, den Beruf, das

Wetter usw.

Gerade in Altstätten ist das manchmal gar

nicht so einfach. Ich kann problemlos in

Deutsch, Englisch oder Französisch kommu

nizieren, aber andere Sprachen kann ich

nicht. Wenn dann einmal ein Kontakt ge

knüpft worden ist, ergeben sich weitere The

men automatisch, sofern der Wunsch da ist.

Und häufig bleibt es bei Alltagsthemen, aber

auch damit schaffe ich einen Kitt. Und die

ser Kitt ist wichtig. Im Massnahmenzentrum

Kalchrain, wo ich früher tätig war, führte

dieser Kitt dazu, dass Jugendliche mich in

schwierigen Situationen mehrmals um ein

Gespräch baten.

Erlebst du auch, dass Insassen während

ihrer Haft zu Gott finden?

Personen, die vorher – wenn ich das mal so

formulieren darf – eine religiöse Antenne

hatten, haben im Gefängnis häufig einen

grossen Bedarf, über Glaubensfragen zu re

den, zu beten oder einen Segen zu empfan

gen. Gerade die vielen Einschlusszeiten in

der Untersuchungshaft führen dazu, dass

Menschen sich über Gott und die Welt viele

Gedanken machen. Wer aber vorher keine

religiösen Antennen hatte, wird sie – so mein

Eindruck – nur in seltenen Fällen im Gefäng

nis entwickeln.

Wir stehen bald vor Weihnachten. Was

denkst du, wie geht es den Insassen

an den Festtagen?

Den Häftlingen fehlen natürlich die Familie

und die Freunde, und sie fühlen sich alleine

im Gefängnis. Viele Häftlinge haben aber kei

nen Bezug zum Christentum, und darum ist

für sie Weihnachten nicht so wichtig. Die

Häftlinge, namentlich im geschlossenen

Vollzug, haben die Festtage nicht so gern,

weil sie keine Arbeit haben und anders als an

den Werktagen mehr eingeschlossen sind.

Darum sind sie auch froh, wenn Weihnach

ten vorbei ist.

Die Fragen stellte Robert Schwarzer